24. Juni 2021 / Aus aller Welt

Auf dem «Schleudersitz»: Wissenschaftler gegen Befristungen

Wer Karriere in der Wissenschaft machen möchte, muss mit befristeten Verträgen rechnen. Existenzängste sind damit programmiert. Ein Streit zwischen Betroffenen und dem Forschungsministerium kocht hoch.

Gordon Feld, Nachwuchsgruppenleiter im Emmy-Noether-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, sitzt in der Innenstadt in einem Park.

Gordon Feld hat sechseinhalb Jahre studiert, dann promoviert, hat zwei Hochschulabschlüsse und einen Doktortitel in der Tasche. Einen sicheren Job hat er trotzdem nicht.

Wie viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler muss sich der 38-jährige Familienvater seit Jahren von Vertrag zu Vertrag hangeln.

Dennoch: Aus seiner Sicht hat er es noch relativ gut getroffen. Als Nachwuchsgruppenleiter am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim hat Feld eine begehrte Förderung erhalten. Damit fühle er sich nun nach einem halben Dutzend Befristungen relativ sicher, sagt der Psychologe. Seine Förderung läuft bis Anfang 2024. Dann heißt es allerdings wieder zu bangen. «Die Befristungen sind eine starke psychische Belastung. Man hat das Gefühl, man sitzt auf einem Schleudersitz», sagt Feld, der im Bereich Schlaf und Gedächtnis forscht.

Er ist einer von vielen Forscherinnen und Forschern, die ihren Ärger über das Befristungssystem an deutschen Hochschulen seit Tagen auf Twitter offen zeigen. Seine sechsjährige Tochter Sophie wolle gern in Mannheim bleiben, twitterte er erst zu Wochenbeginn unter dem Hashtag «#IchbinHanna». «Keine Ahnung, ob das klappt.»

Viele Betroffene sind wie der Psychologe Ende 30 und fallen bald aus dem System, denn das sogenannte Wissenschaftszeitvertragsgesetz regelt, dass normalerweise nach zwölf Jahren - jeweils sechs Jahre mit Beginn und nach der Promotion - mit der Befristung Schluss ist. «Es ist eine Unverschämtheit, so gute Leute mit so schlechten Arbeitsbedingungen abzuspeisen», klagt Feld.

Die Debatte über kurze Vertragslaufzeiten in der Wissenschaft ist nicht neu. Ein Erklärfilm von 2018 zum sogenannten Gesetz auf der Webseite des Bundesforschungsministeriums brachte das Fass vor kurzem zum Überlaufen. Darin heißt es, dass ohne Fluktuation eine Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern alle Stellen verstopfe. Durchschnittlich 22 Monate läuft ein Vertrag für Promovierende, 28 Monate sind es, sobald der Doktortitel erreicht ist, wie aus dem aktuellen Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs hervorgeht. Am Donnerstag will die Linke das Thema im Bundestag debattieren.

Wer sich bis zum Ablauf der zwölf Jahre keine der begehrten Professuren oder eine der anderen unbefristeten Stellen gesichert hat, muss anderswo unterkommen. Einen Ausweg bieten sogenannte Drittmittelstellen, die aber abhängig vom Projekt befristet sind.

Die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) sieht noch ein anderes Problem: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ständig um eine Verlängerung ihrer Verträge zittern müssten, mieden möglicherweise Risiken in der Forschung und Konflikte mit dem Mainstream in ihrer Fachdisziplin. «Das Zeitvertrags-Unwesen hemmt also Innovationen und begünstigt Duckmäusertum in der Forschung», sagt GEW-Vorstand Andreas Keller.

Viele Forscher gehen somit ins Ausland - auf der Suche nach unbefristeten Stellen. «In England, den Niederlanden und Skandinavien haben wir super Bedingungen», sagt Feld. Das deutsche Wissenschaftssystem verliere viele qualifizierte Köpfe. «Warum investiert man jahrelang in ihre Qualifikation und hält sie dann nicht hier?», fragt er. Auch er könne sich einen Wechsel ins Ausland vorstellen, müsse dabei aber auch an die Wünsche seiner Familie denken.

Das Bundesforschungsministerium hat den umstrittenen Clip mittlerweile von seiner Homepage genommen. «Es ging in der öffentlichen Debatte zuletzt zu viel um einzelne Worte in dem Video», sagte Staatssekretär Wolf-Dieter Lukas in einer Videobotschaft. Das Ressort verweist in der Debatte auf die Hochschulen: «Es liegt in der Verantwortung der Hochschulen und Forschungseinrichtungen, für ein angemessenes Verhältnis von befristeten und unbefristeten Arbeitsverhältnissen zu sorgen. Die Befristungsmöglichkeit ist keine Befristungspflicht», teilte ein Sprecher mit. Es sei geplant, die Auswirkungen des Gesetzes bis zum Frühjahr 2022 zu evaluieren.

Die Hochschulrektorenkonferenz (HRK), ein Zusammenschluss der staatlichen und staatlich anerkannten Hochschulen, hält Befristungen hingegen für notwendig. «Für jede neue Wissenschaftlergeneration muss die Chance auf Qualifikation und Teilhabe sichergestellt sein», sagt Peter-André Alt, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz. «Ohne befristete Qualifikationsstellen wäre das nicht möglich.»

Ein erster Lösungsansatz im Streit um Kettenverträge könnten sogenannte Tenure-Track-Professuren sein: Nach einer befristeten Bewährungsphase erhält ein Wissenschaftler bei Erfolg eine dauerhafte Professur. Bund und Länder haben 2017 ein entsprechendes Programm auf den Weg gebracht. Das Ziel: Bis 2032 sollen 1000 solcher Professuren mit einer Fördersumme von maximal einer Milliarde Euro vergeben werden.

Der GEW reicht das nicht aus: Sie fordert für die Phase nach der Promotion unbefristete Verträge für alle. Ähnlich sieht das auch der Psychologe Feld: «Nach der Promotion noch von einer Qualifikationsphase zu sprechen, ist absurd.»


Bildnachweis: © Uwe Anspach/dpa
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