3. März 2023 / Aus aller Welt

Ein Monat nach den Beben - «Die Zukunft ist vorbei»

Geisterstädte, bereit zum Abriss. Hunderttausende Obdachlose. An eine auch nur ansatzweise Rückkehr zur Normalität ist in der Grenzregion der Türkei und Syriens Wochen nach den Beben nicht zu denken.

Das Beben vor einem Monat in der Türkei und Syrien hat Zehntausende obdachlos gemacht und vertrieben.

Für Fager ist es gewissermaßen eine Entscheidung zwischen zwei Katastrophen: dem Elend in Syrien und dem in der Türkei. Der Syrer steht mit seiner Nichte am Grenzübergang Bab al-Hawa, und auf beiden Seiten der hohen Tore wartet Verwüstung - Trümmer von Häusern, zertrümmerte Leben. Sechsmal flüchtete er vor Syriens Bürgerkrieg, zuletzt ins türkische Adana, wo er erstmals seit Jahren wieder in einem richtigen Haus lebte. Aber jetzt, wo die Erdbeben ihn und seine Familie erneut in ein Zelt gezwungen haben, denkt er über Flucht Nummer sieben nach.

Knapp ein Monat ist vergangen, seit die Menschen in dieser Region in einem Alptraum erwachten. Um 4.17 Uhr des 6. Februar brachte ein Erdbeben Häuser zum Einstürzen, die Zehntausende unter sich begruben. Mehr als 50.000 Menschen wurden bislang tot gemeldet. Auf das erste Beben der Stärke 7,7 in der Südosttürkei folgte am Nachmittag desselben Tages eines der Stärke 7,6 - und etliche Nachbeben.

«Jahrhundertkatastrophe» nennt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Erdbeben - sie werden die Türkei noch für Monate, wenn nicht sogar Jahre beschäftigen. Mit dem Nordwesten Syriens haben sie zugleich eine Region getroffen, die schon vorher unter einer humanitären Krise von gewaltigem Ausmaß ächzte.

Geisterstädte und massenhaft Obdachlose

Das Ausmaß der Beben ist auch einen Monat danach kaum zu fassen. Nach UN-Angaben sind rund 29 Millionen Menschen in beiden Ländern betroffen. Das besonders schwer getroffene Antakya gleicht einer Geisterstadt. Bagger räumen Schutt zusammen. Ganze Stadtviertel in der Region sind bereit zum Abriss. Einige Menschen wagen sich zurück in einsturzgefährdete Gebäude, um ein paar Möbel oder anderen Besitz zu retten.

Fast zwei Millionen Menschen sind in der Türkei obdachlos, etwa genau so viele haben die Region inzwischen verlassen. Zurückgeblieben sind die, die nicht gehen können oder wollen. Sie leben unter widrigen Bedingungen vor allem in Zelten. Anwohner im Bezirk Samandag sagten der dpa, der Strom falle oft aus und sie hätten keine Möglichkeit, ihre Wäsche zu reinigen. Es fehle an Trinkwasser und Toiletten, es mangele an Hygiene. Per Durchsage werde davor gewarnt, das Leitungswasser zu trinken. Krätze und Verlausung nehmen zu, wie Adanas Ärztekammer-Chef Selahattin Mentes sagte.

In Nordwestsyrien lebten schon vor den Beben etwa 1,8 Millionen Vertriebene in Zelten, Schutzbauten und einfachen Häusern - 1400 offizielle und inoffizielle Camps sind es inzwischen. Plätze sind dort nicht leicht zu bekommen. Und so suchen seit den Beben Tausende weitere Familien auch anderswo Unterschlupf, einige in zerstörten Häusern, andere übernachten bei eisigen Temperaturen im Freien.

Auf türkischer Seite entdeckt man überall blaue und weiße Zelte in der Grenzregion. Sie stehen in Parks und Vorgärten, auf Höfen und Spielplätzen, am Straßenrand, selbst in ländlichen Gegenden zwischen Olivenbaumplantagen. Ein Mann, der mit seiner Frau und sechs Kindern in einem Zelt der Katastrophenschutzbehörde AFAD untergekommen ist, kann kaum beschreiben, wie die nächsten Wochen und Monate werden sollen. «Die Zukunft», sagt er, «ist vorbei».

Vermisste Opfer, Waisenkinder und gesundheitlicher Notstand

Hinzu kommt die Sorge um vermisste Angehörige: Viele suchen mit Anzeigen an Häuserwänden oder Bildern in Whatsapp-Gruppen bis heute nach ihren Liebsten. Auch auf Twitter teilen Nutzer Fotos und letzte Standortangaben. Mehr als 44.000 Menschen wurden alleine in der Türkei durch das Beben getötet, über die Zahl Vermissten macht die Regierung aber bislang keine Angaben. In Syrien sorgen sich Helfer auch um unbegleitete Kinder. Viele von ihnen sind Vertriebene, die ohnehin nur schwache soziale Bindung haben.

«Unser Leben ist wie ein Film geworden. Wie ein Film, bei dem man das Ende nicht kennt», sagt ein syrischer Junge, vielleicht zwölf Jahre alt, der versucht, über Bab al-Hawa zurück nach Syrien zu kommen. Ghaith, ein anderer, sitzt vor einem Häuschen zur Sicherheitskontrolle. Seine aus dem Ort Salkin stammende Familie, die nun auch in Zelten lebt, muss ihn hier abholen, allein über die Grenze darf er nicht. Ghaith wischt sich Tränen aus den Augen.

In Syrien ringen Ärzte weiter um das Leben von Verletzten. «Die medizinische Lage ist nicht zu beschreiben», sagt Arzt Ammar Zakaria von der Organisation SAMS. Niemand traue sich, die Toten-Dunkelziffer im Nordwesten Syriens - bestätigt sind rund 5900 - zu schätzen. Viele Trümmer seien mangels schwerer Geräte seit den Beben gar nicht bewegt worden. «Es sind sehr, sehr, sehr viele Opfer», sagt Zakaria.

Schuttberge, Asbest und zerstörte Kulturgüter

Neben menschlichem Leid haben die Beben auch viel wirtschaftlichen, ökologischen und kulturellen Schaden angerichtet. Mehr als 200 000 Häuser wurden nach Regierungsangaben allein in der Türkei zerstört - gewaltige Schuttberge, die entsorgt werden müssen. Greenpeace in der Türkei warnt vor Verseuchung mit Asbest oder anderen Chemikalien. Verlässliche Daten liegen dazu nicht vor. Aber dort, wo die schweren Maschinen in der Türkei nun die Gebäude abtragen, hängt ein weißer, beißender Dunst in der Luft.

Auch Kulturgüter haben schwere Schäden genommen oder sind zerstört, vor allem in der Stadt Antakya, dem antiken Antiochien: Nach einem ersten Bericht der Ingenieurs- und Architektenkammer gehören dazu die orthodoxe Sankt Paulus Kirche und die Habib-i Neccar Moschee - einer der ältesten Moscheen in den heutigen Grenzen der Türkei. Auch die Gemäuer einer historischen Burg in Gaziantep, gebaut von den Römern im 2. Jahrhundert nach Christus, sind eingestürzt.

Der Sachschaden den das Erdbeben verursacht hat, liegt nach einer Schätzung der Weltbank allein in der Türkei bei mindestens 34,2 Milliarden US-Dollar (rund 32,4 Milliarden Euro). Der türkische Unternehmens- und Geschäftsverbands Türkonfed schätzte den finanziellen Schaden in einem Bericht kurz nach dem Beben auf 84,1 Milliarden Dollar (rund 79 Milliarden Euro).

Rücktrittsrufe und zu späte Hilfen

Nach dem Schock wird in der Türkei nun immer deutlicher Kritik an der Regierung laut, auch mit Rücktrittsforderungen. Viele kritisieren an Erdogans Krisenmanagement, dass zu wenige Rettungsteams zu spät vor Ort waren etwa oder Versorgung zu spät angekommen sei. Hinzu kommt der Vorwurf, dass die Regierung Pfusch am Bau nicht geahndet habe. Erdogan räumte Verzögerungen ein, rechtfertigte diese aber mit der Größe der Katastrophenregion und der Schwere der Beben.

Nach Nordwestsyrien rollten inzwischen zwar etwa 500 Lastwagen mit Hilfsgütern, aber auch hier gestand UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths ein, dass die Vereinten Nationen mit Hilfe zu spät zur Stelle waren. Hilfen für Syrien seien schon vor den Beben dramatisch unterfinanziert, sagt Clynton Beukes von der Organisation World Vision. «Als das Beben uns traf, hatten wir nichts», sagt er. Helfer standen vor der Frage, ob sie das Gehalt eines Arztes im Krankenhaus bezahlen oder Hilfsgüter an der Grenze für Syrien stationieren wollten - beides zusammen ging nicht.

Erdogan im Wahlkampf, etwas Normalisierung für Assad

Die Katastrophe traf die Türkei mitten im Wahlkampf. Erdogan macht deutlich, dass er an einem vorgezogenen Wahltermin am 14. Mai festhalten will. Die Regierung treibt nun den Wiederaufbau der Region voran - innerhalb eines Jahres sollen in der Region neue Häuser stehen. Ein Versprechen, mit dem Erdogan hofft, trotz aller Kritik auch nach 20 Jahren an der Macht wiedergewählt zu werden.

Syriens Machthaber Baschar al-Assad, der sich im Bürgerkrieg mit aller Gewalt an der Macht hält, will auch politischen Nutzen aus der Katastrophe ziehen. Nach seiner langen politischen Isolation will er zeigen, dass seine Regierung - trotz der Zersplitterung des Landes - faktisch die beherrschende Kraft ist. In Syrien könnte Assad als einziger Gewinner aus dieser Katastrophe hervorgehen.


Bildnachweis: © Boris Roessler/dpa
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