11. Juni 2021 / Aus aller Welt

Erstmals Bartgeier in Deutschland ausgewildert

Vor gut 100 Jahren haben Menschen sämtliche Bartgeier in den Alpen ausgerottet, nun werden sie mit immensem Aufwand wieder angesiedelt. Das Verfahren ist erprobt - dennoch lauern Gefahren.

Das Bartgeierweibchen «Wally» vor ihrem Transport zum Knittelhorn.

Schritt für Schritt hangeln sich die Träger am Fixseil den steilen Hang nach oben. Auf ihrem Rücken fast dreißig Kilogramm schwere Holzkisten - und eine kostbare Fracht: zwei junge Bartgeier, auf dem Weg zu ihrem neuen Zuhause.

Die Tiere werden wenig später in einer Felsnische in künstliche Nester gesetzt und mitsamt Futter und Wasser zurückgelassen. Die beiden Weibchen sind die ersten Bartgeier, die seit mehr als 140 Jahren in Deutschland ihre Kreise über den Berggipfeln ziehen werden.

Entsprechend euphorisch begleiteten Umweltschützer wie Politiker am Donnerstag die Auswilderung im Nationalpark Berchtesgaden. Von einem historischen Meilenstein für den Artenschutz ist immer wieder die Rede. Die Aasfresser mit knapp drei Metern Flügelspannweite wurden in den Alpen vom Menschen komplett ausgerottet, seit 1986 bemüht sich ein grenzübergreifendes Projekt um ihre Wiederansiedlung.

Die aus Spanien stammenden, 88 und 91 Tage alten Jungvögel werden noch etwa einen Monat lang in ihrer Nische sitzen, einem 20 Meter breiten und 6 Meter tiefen Überhang in einer gewaltigen Felswand. Schon kurz nach ihrer Freilassung begann «Wally» zu fressen, die Nische zu erkunden und sich zu putzen, während «Bavaria» ihre Umgebung eher zaghaft in Augenschein nahm - live in alle Welt übertragen durch eine Webcam (www.lbv.de/bartgeier-webcam).

Das Auswilderungskonzept ist erprobt, zwischen 1986 und 2020 wurden knapp 230 Bartgeier ausgewildert. Die Überlebensquote beträgt im ersten Jahr 88 Prozent, im zweiten gar 96 Prozent - für einen Wildvogel unerreichbare Werte. Doch später geht es rapide abwärts: «Wir nehmen an, dass im Alpenraum 30 Prozent aller Bartgeier elendig an Bleivergiftung sterben», berichtet Toni Wegscheider vom Landesbund für Vogelschutz (LBV).

In Österreich treffe es sogar rund die Hälfte. «Die ersticken bei lebendigem Leib, die verhungern bei lebendigem Leib» - je nachdem, welches Organ betroffen ist. Die Geier nehmen das Nervengift mit Aas, das mit bleihaltiger Munition geschossen wurde, auf. Auch wenn Geierreviere viel größer sind, unterstützt zumindest die Berchtesgadener Jägerschaft das Projekt und hat auf bleifreie Munition umgestellt.

Auch darüber hinaus brauchen die Tiere anfangs viel menschlichen Support: Im Morgengrauen werden die Betreuer rund 1,5 Stunden aufsteigen und den noch schlafenden Tieren Futter in die Nische werfen. Nach drei bis vier Wochen starten die Junggeier mit Flugübungen. Der Erstflug wird für Zuschauer eher putzig, schildert Wegscheider. «Sie werden ungelenk landen mit Purzelbaum und Überschlag, und von da an sind sie auch nicht mehr im Nest.»

Bis in den Oktober hinein werden die Verantwortlichen in der Region weiterhin Futter auslegen, auf Schuttfeldern und Felsplatten. Bartgeier fressen fast ausschließlich Knochen, weder Schnabel noch Krallen sind darauf ausgelegt, selbst Tiere zu töten.

Im Spätherbst werden die beiden dann vermutlich das Weite suchen und in ihrer Jugendphase alpenweit herumvagabundieren. «Wir hoffen, dass sich die Vögel dann, wenn sie geschlechtsreif sind - das ist mit fünf, sechs Jahren der Fall -, an das Berchtesgadener Land erinnern und zurückkommen», sagt Carolin Scheiter vom Nationalpark.

Das ist aber nicht das einzige Ziel. «Wir schließen damit eine Lücke in der Verbreitung», erläuterte der LBV-Vorsitzende Norbert Schäffer. In ferner Zukunft soll es eine durchgehende Verbindung der Populationen von Marokko über Italien, den Balkan und die Türkei bis nach Zentralasien geben.

Die Erfahrung zeigt, dass die Chancen für eine Rückkehr nach Berchtesgaden hoch sind, denn in den Wochen in der Felsnische prägen sich die Tiere die Umgebung als ihre Heimat ein. Zudem finden sie im Nationalpark und den angrenzenden Regionen ausreichend Platz. Bartgeierreviere sind riesig: 300 Quadratkilometer braucht ein Paar, eine Fläche ungefähr so groß wie Malta. Selbst Steinadler geben sich mit 60 Quadratkilometern zufrieden. Dennoch wird es keinen Streit um Lebensraum geben, denn die Geier gehen sich bei der Reviersuche aus dem Weg.

Zwei bis drei Tiere sollen künftig jährlich in Berchtesgaden ausgewildert werden, bis in acht bis zehn Jahren der erste Nachwuchs schlüpft. Bis dahin sollen auch noch «Premiumgeier» hinzukommen - also Tiere anderer Herkunft. «Die 300 Bartgeier, die es jetzt im Alpenraum gibt, haben alle die gleichen circa 15 Vorfahren», erläutert Wegscheider. Durch Zuchtprogramme mit verletzten Wildtieren soll der Genpool in den Ostalpen aufgemischt werden.


Bildnachweis: © Peter Kneffel/dpa
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