8. Oktober 2021 / Aus aller Welt

Übergriffe auf Schützlinge in SOS Kinderdorf?

Die SOS-Kinderdörfer sollen eine Zuflucht sein, ein sicherer Ort. Ausgerechnet dort sollen aber Kinder, die Schutz suchten, zu Opfern geworden sein.

Das Logo der SOS-Kinderdörfer.

Eine Studie hat Übergriffe auf Kinder in einem SOS-Kinderdorf in Bayern aufgearbeitet. Das Ergebnis: Zwei ehemalige Mitarbeiterinnen des Kinderdorfes sollen ihnen anvertrauten Kindern nach Angaben der Hilfsorganisation «Leid» zugefügt haben. Von einem «Klima der Angst» ist die Rede.

Ehemalige Bewohner beschuldigen die beiden Frauen demnach, von Anfang der 2000er Jahre an bis etwa 2015 «kindeswohlgefährdende Grenzüberschreitungen» begangen zu haben. Der Vorstand des SOS-Kinderdorf-Vereins habe sich bei den Betroffenen entschuldigt, sagte eine Sprecherin. Die Organisation SOS-Kinderdorf will nach eigenen Angaben vor allem Kindern helfen, deren Eltern wegen Armut nicht für sie sorgen können oder die familiäre Gewalt erleben.

Bei den konkreten Vorwürfen soll es beispielsweise um gemeinsames Duschen gehen oder Hygienemaßnahmen, die die Schamgrenzen der Kinder verletzten. Das geht aus einem Bericht des Missbrauchsexperten Heiner Keupp hervor, dessen Zusammenfassung der SOS-Kinderdorfverein am Freitag auf seiner Homepage veröffentlichte. Keupp hat auch schon den Skandal um sexuellen Missbrauch im katholischen Kloster Ettal wissenschaftlich aufgearbeitet.

«In einer Vielzahl von Handlungen der beiden ehemaligen Mitarbeiterinnen haben kindeswohlgefährdende Grenzverletzungen und pädagogische Fehlhandlungen stattgefunden», teilte SOS Kinderdorf mit. «Ich bedauere zutiefst, dass den uns anvertrauten Kindern Leid widerfahren ist. Im Zentrum des Handelns von SOS-Kinderdorf stehen Kinderschutz und die Stärkung von Kinderrechten. Deshalb bin ich erschüttert, dass es in einer Einrichtung des SOS-Kinderdorfvereins dazu kommen konnte», sagte die Vorstandsvorsitzende des SOS-Kinderdorf e.V., Sabina Schutter.

Die Staatsanwaltschaft Augsburg hat nach einer Strafanzeige inzwischen Ermittlungen aufgenommen, wie ein Sprecher der Behörde der Deutschen Presse-Agentur in München sagte. Eine Sprecherin von SOS-Kinderdorf erklärte, die Organisation wisse von der Anzeige und sei im Austausch mit dem Betroffenen, der sich zuvor an eine extra bei den SOS-Kinderdörfern eingerichtete Anlaufstelle gewandt habe und dort beraten worden sei.

«Wir nehmen jeden Vorwurf pädagogischer Grenzverletzung oder Unrechtshandlung sehr ernst und wollen als Organisation aus Fehlern lernen und uns weiterentwickeln», betonte die Hilfsorganisation. «Leider ist es offenbar nicht gelungen, die etablierten Standards und Richtlinien in Bezug auf Kinderschutz und die Qualität der pädagogischen Arbeit lückenlos in den Alltag der untersuchten Kinderdorffamilien umzusetzen.»

Die Kinderdörfer wollen Konsequenzen ziehen: Der Verein will eine neue Stelle für Kinderschutz schaffen, die beim Vorstand angesiedelt ist und Fachkräfte dabei unterstützt, verbindliche Standards umzusetzen. «Wir müssen als Organisation noch besser hinhören.»

Außerdem soll die interne Meldestelle eine Hotline für akute Anliegen bekommen. «So soll sichergestellt werden, dass ehemalige und aktuell Betreute zu jedem Zeitpunkt die Möglichkeit haben, sich einzubringen, zu beteiligen und im Ernstfall auch zu beschweren und entsprechende Hilfen zu erhalten.»

Nach Angaben des Kinderdorfvereins haben sich seit der Einführung einer internen Anlauf- und Monitoringstelle für kindeswohlgefährdende Grenzüberschreitungen im Jahr 2010 insgesamt 52 ehemalige Betreute gemeldet. Bislang seien in 21 Fällen auch Anerkennungszahlungen «bei Missbrauchserfahrungen» geleistet worden. Keupp forderte, diese und mögliche weitere Fälle systematisch aufzuarbeiten.

Die Vereinsvorsitzende Schutter kündigte ein bundesweites Forschungsprojekt in Zusammenarbeit unter anderem mit der Uni Münster und dem Deutschen Jugendinstitut in München an. «Für uns stehen dabei die Betroffenen im Mittelpunkt unseres Handeln: Eine Aufarbeitung der Vergangenheit muss deshalb zwingend die unterschiedlichen Lebenslagen mit berücksichtigen.»

Die bayerische Studie ist aber auch bislang schon nicht die einzige, die sich mit möglichen Missbrauchsfällen in SOS Kinderdörfern befasst. In 20 Ländern sollen betreute Kinder und Jugendliche Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch geworden sein. Es gebe 22 untersuchte Fälle in 50 Einrichtungen zwischen den 1990er Jahren und der jüngsten Vergangenheit, hatte der Sprecher der SOS Kinderdörfer Weltweit, Boris Breyer, im Mai dieses Jahres mitgeteilt. Laut der österreichischen Teilorganisation von SOS-Kinderdorf sind Betreuungseinrichtungen in Afrika und Asien betroffen.

SOS-Kinderdorf beherbergt in 137 Ländern 65 000 Kinder und unterstützt weitere 347 000 Menschen mit sozialen Programmen. Laut dem jüngsten Jahresbericht beliefen sich die Einnahmen aus Spenden und staatlichen Hilfsgeldern im Jahr 2019 auf 1,4 Milliarden Euro.


Bildnachweis: © Peter Kneffel/dpa
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